Definition
Die idiopathische Coxa antetorta ist eine angeborene isolierte, meist doppelseitige pathologische Vergrößerung des Antetorsionswinkels des Schenkelhalses ohne nachweisbare Hüftdysplasie.
Ätiologie, Pathogenese, Pathophysiologie
- Der physiologische Antetorsionswinkel ist nicht konstant: Im 3. Embryonalmonat besteht eine leichte Retrotorsion von 2 Grad, die bis zum Geburtstermin eine Antetorsion von ca. 30 Grad erreicht und sich dann bis ins Jugendalter wieder auf 12 Grad zurückbildet.
- Der Einwärtsgang ist ein sehr häufiges Symptom im Wachtsumsalter, von dem etwa 13 % aller Kinder betroffen sind.
- Die Ursache der idiopathischen Coxa antetorta ist noch unbekannt, eine genetische Disposition ist bekannt.
- Durch die verstärkte Antetorsion kommt es zu einer Verminderung des wirksamen Hebelarmes für die Hüftabduktoren durch Annäherung des Trochanter major an das Hüftgelenk und zu einem vermehrten Druck des Schenkelhalses auf den vorderen, ungenügend deckenden Pfannenbereich, sofern das Bein in der Neutralstellung steht. Bei Innenrotation normalisiert sich die Biomechanik weitgehend.
- Sehr häufig liegt eine generelle Hyperlaxizität vor.
KlassifikationNormalwerttabellen aus: Lanz, T., Schweiz. med. Wschr. 81, 1053, 1951
Shands, A.R., Steele, MK., J. Bone J. Surg. 40 A, 803, 1958
Medizinische Schlüsselsysteme
Anamnese
Spezielle Gelenkanamnese
- frühere Erkrankungen, speziell Hüftgelenkserkrankungen
Funktionseinschränkung
Schmerzen:Lokalisation, Ausstrahlung, Belastungsabhängigkeit
Diagnostik
Klinische Diagnostik
- Beurteilung der Beinachse. (Varus- oder Valgusdeformität, physiologische Beinachse, Antekurvation und Rekurvation).
- Beurteilung Oberschenkelmuskulatur: Atrophie?
- Beurteilung des Gangbildes: Differenzierung, ob Einwärtsgang des ganzen Beines, d. h. Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß (sog. "Toeing in", typisch für idiopathische Coxa antetorta) und Kniebohrergang (sog. "Kneeing in"), d. h. innengedrehter Oberschenkel mit Knie bei gerader Unterschenkel- und Fußstellung. Der Kniebohrergang spricht eher für verstärkte Außenrotationsfehlstellung des Unterschenkels und/oder Füße bei normaler Antetorsion des Schenkelhalses. Eventuelles Hinken.
- Beurteilung der Füße (z. B. Sichelfuß) und der Wirbelsäule.
- Beurteilung Funktionsausmaße der Hüft- und Kniegelenke, Beinlängen. Die Rotation der Hüftgelenke wird mit Vorteil in Bauchlage geprüft. Bei idiopathischer Coxa antetorta findet sich nicht selten eine Innenrotation von 70-90 Grad bei stark verminderter Außenrotation.
Apparative Diagnostik
Notwendige apparative Untersuchungen: Röntgen Beckenübersicht
Röntgen Antetorsionsaufnahme nach Rippstein
Im Einzelfall nützliche apparative Untersuchungen Röntgen Lauenstein-AufnahmeSonographische Bestimmung des Antetorsionswinkel
Computertomographie mit Bestimmung des Antetorsionswinkels
Differentialdiagnose
- Coxa antetorta bei Hüftdysplasie.
- Coxa antetorta bei infantiler Zerebralparese
- Coxa antetorta posttraumatisch (meist einseitig)
Therapie
Aufgrund der in nahezu 90% eintretenden Spontankorrektur der idiopathischen Coxa antetorta während des Wachstums ist die zunächst entscheidende Therapie die Aufklärung und Beratung.
Konservative Therapie
Beratung
Wichtig ist die Aufklärung der Eltern über den natürlichen Verlauf der Erkrankung. Die Rückbildung der verstärkten Antetorsion verläuft erfahrungsgemäß in 2 Schüben (6. und 8. Lebensjahr, Pubertät).
Eine bereits diagnostizierte, beschwerdefreie idiopathische Coxa antetorta braucht erst nach den Wachstumsschüben wieder klinisch und röntgenologisch kontrolliert werden, sofern der Einwärtsgang noch erheblich ist und die in Bauchlage geprüfte Innenrotation nahezu 90 Grad und die Außenrotation nur maximal 20 Grad betragen.
Alle konservativen Behandlungsmaßnahmen, deren Ziel die Unterbindung bzw. die Korrektur des Einwärtsganges zum Ziel haben, sind im Grunde genommen kontraproduktiv, weil bei orthograder Beinstellung der Hüftkopf infolge der Antetorsion ungenügend überdacht ist.
Bei der typischen idiopathischen Coxa antetorta ist deshalb weder eine medikamentöse noch eine physikalische noch eine orthopädietechnische (Orthesen, Einlagen, detorquierende Absätze und Sohlen) Therapie durchzuführen.
Operative Therapie
Mit der operativen Therapie sollte im Kindesalter äußerste Zurückhaltung geübt werden, da sich bis zum Wachstumsabschluß die überwiegende Mehrzahl der pathologischen Antetorsionen wieder normalisieren.
Indikation
Im Wachstumsalter nur bei extrem pathologischen AT-Winkeln (reeller AT-Winkel deutlich über 50 Grad), kombiniert mit nicht durch andere Ursachen erklärbaren Beschwerden, z. B. häufiges Hinfallen, Knie-, Leisten- oder Kreuzschmerzen
Nach Wachstumsabschluß: bei entsprechenden Beschwerden und reellen AT-Winkeln über 40 Grad
Standardoperationsverfahren:
Intertrochantäre Derotations-Osteotomie
Ziele
Korrektur des Einwärtsganges mit den eindeutig durch ihn bedingten Beschwerden.
Operationsprinzip
Im Wachstumsalter Rückdrehung der pathologisch vermehrten Antetorsion auf den altersentsprechenden physiologischen Wert. Im Wachstumsalter i.d.R. nicht mehr als 30-40 Grad Derotation, nach Wachstumsabschluß nicht mehr als 20 Grad Derotation.
Operationsverfahren
Intertrochantäre Derotations-Osteotomie
Planung und Vorbereitung
Implantate, Instrumente Intraoperative Röntgenmöglichkeit Planskizze
Mögliche Folgen, allgemeine Risiken und Komplikationen
Hämatom, Nachblutung, Infektion, Wundheilungsstörung. Gefäßverletzung, Nervenverletzung.
Spezielle Folgen:
Bewegungseinschränkung der Hüfte. Verbreiterung der Hüftsilhouette. Beinlängendifferenz.
Komplikationen:
Verzögerte Osteotomieheilung. Pseudarthrose. Implantatversagen. Weiterbestehende Beschwerden.
Nachbehandlung nach operativen Maßnahmen
Postoperative Röntgenkontrolle.
Spezielle Lagerung.
Thromboseprophylaxe.
Individuelle postoperative Physiotherapie.
Frühzeitige Mobilisierung. Individueller Belastungsaufbau.
Aufklärung über erlaubte Bewegungen und Belastbarkeit. Aufklärung über regelmäßige postoperative klinische und röntgenologische Kontrollen.
Beinlängenüberprüfung, ggfs. Ausgleich.
Prognose
Die Prognose der idiopathischen Coxa antetorta ist durchweg gut, da sich in den meisten Fällen bis zum Wachstumsabschluß die pathologische Antetorsion zu physiologischen Werten zurückbildet.
Eine prophylaktische derotierende Osteotomie nach Wachstumsabschluß ohne klinisches Beschwerdebild ist nicht indiziert.
Die frühzeitige Entstehung einer Koxarthrose ist nicht gesichert und aufgrund von Querschnittsuntersuchungen älterer Koxarthrose-Patienten unwahrscheinlich.
Prävention
Nicht bekannt.
Ausgewählte Literatur
Jani, L., Schwarzenbach, U., Afifi, K., Scholder, P., Gisler, P.: Verlauf der idiopathischen Coxa antetorta. Orthopäde 8, 5-11, 1979
Lanz, T. von, Wachsmuth, W.: Praktische Anatomie, I., Bd. 4 Teil: Bein und Statik. Springer, Berlin, Heidelberg, New York, 1972
Lanz, T, von, Schweiz. med. Wschr. 81, 1053, 1951
Shands, A.R., Steele, M. K.: Torsion of the femur. J. Bone J. Surg. 40 A, 803, 1958
Verfahren zur Konsensbildung:Expertengruppe
Hauptautoren: E. Schmitt, Homburg/Saar, J. Heisel, Bad Urach
Koautoren L. Jani, Mannheim, G. Schuhmacher, Heppenheim
Redaktionskomittee
Prof. L. Jani, Mannheim
Dr. K.-L. Krämer, Heidelberg
Prof. Dr. J. Grifka, Bochum
Prof. Dr. F.U. Niethard
Prof. Dr. H.-P. Scharf, Ulm
PD Dr. R. Schleberger, Bochum
PD Dr. J. Zacher, Berlin