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Schiefhals

Die Differentialdiagnose des Schiefhalses im Kindesalter
von Dr. Gregor Schoenecker

In der ambulanten kinderorthopädischen Sprechstunde steigt die Zahl der Säuglinge und Kleinkinder, die von Pädiatern und Orthopäden oder auf Veranlassung von Krankengymnasten mit dem Symptom „Schiefhals“ vorgestellt werden. Der Begriff „Schiefhals“ wird benutzt, um die Kombination der inspektorisch erfassten Befunde einer vom normalen abweichenden Kopfstellung und –rotation zu beschreiben. Ob hier eine echte Erkrankung vorliegt, muß differentialdiagnostisch abgeklärt werden, denn eine Vielzahl unterschiedlicher Grunderkrankungen kann zu Veränderungen der kindlichen Halswirbelsäulenregion mit funktionellen, neurologischen oder kosmetischen Folgeproblemen führen.

Die im Rahmen der Vorstellung zunehmend häufiger geäußerte Verdachtsdiagnose lautet „KISS-Syndrom“. Unabhängig von der Frage, ob es kopfgelenkinduzierte Symmetriestörungen überhaupt gibt oder ob hier gesunde Kinder zu behandlungsbedürftigen Patienten abgestempelt werden, besteht die Notwendigkeit, sinnvoll die weiteren Schritte in der diagnostischen Kaskade einleiten zu können.

Infos zum "Kiss-Syndrom" bei Wikipedia! Die Infos dort sind kommentarlos richtig!

Die Bandbreite möglicher Grunderkrankungen erstreckt sich von Traumafolgen über Entzündungen und Tumore bis zu Fehlbildungen.
 
Das Erkennen des klassischen muskulären Schiefhals ist meist schon in den ersten zwei Lebensmonaten möglich, da hier die strangartige Verkürzung des Musculus Sternocleidomastoideus mit der entsprechenden Kopfschiefhaltung (Kopfneigung zur betroffenen Seite, Kopfdrehung zur Gegenseite) vom Untersucher leicht zu objektivieren ist (Abb.1). Der Kopf des Säuglings weist meist eine Asymmetrie im Sinne der einseitigen Abflachung auf (Plagiozephalie). 
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Abb.1 Muskulärer Schiefhals bei einem 13-jährigen Patienten. Die strangartige Verkürzung des M. sternocleidomastoideus betrifft vorwiegend den sternalen Anteil des Muskels und bewirkt die typische Neigung zur betroffenen Seite mit Rotation zur Gegenseite.
Die Kontraktur des M.sternocleidomastoideus ist im Rahmen der klinischen Untersuchung schmerzfrei palpabel. Als Ursache wurde lange Zeit ein Trauma bei Geburt aus Steißlage angenommen, nach neueren Untersuchungen ist jedoch ein intrauterines Kompartmentsyndrom ursächlich anzuschuldigen.

Eine Korrektur der Schiefhaltung in die Neutralstellung ist im Rahmen der klinischen Untersuchung beim klassischen muskulären Schiefhals zu erreichen, eine aktive und eine passive Bewegung bis zum endgradigen Bewegungsausschlag der HWS ist jedoch nicht möglich. Im Gegensatz dazu gestattet die Schiefhalshaltung im Rahmen der Schräglagedeformität eine fast vollständige passive Korrektur.

Nach weiteren Fehlbildungen am Bewegungsapparat wie dem Klumpfuß muß gesucht werden, im Rahmen des Hüftscreenings im Neugeborenenalter findet sich in 20% der Fälle auch eine einseitige Hüftdysplasie.

Die Therapie besteht im Verlauf des ersten Lebensjahres in einer krankengymnastische Dehnungsbehandlung des M.sternocleidomastoideus, die täglich auch von den Eltern durchgeführt werden kann. Bei Persistenz des Schiefhalses ist ab dem zweiten Lebensjahr die operative Verlängerung des Muskels indiziert, um eine knöchern fixierte HWS-Skoliose und eine Gesichtsasymmetrie zu verhindern (Abb.2).
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Abb.2 Selber Pat. wie Abb.1. Nach biterminaler Tenotomie des M. sternocleidomastoideus findet sich eine vollständige Korrektur der Fehlstellung, jedoch verbleibt eine deutliche Gesichtsskoliose aufgrund der spät durchgeführten Operation.
Der ossäre Schiefhals ist durch strukturelle anatomische Veränderungen der Wirbelsäule bedingt. Angeborene Anomalien der Halswirbelkörper können durch ein Röntgenbild der HWS in zwei Ebenen nachgewiesen werden, nicht selten sind jedoch auch Zusatzuntersuchungen wie NMR oder CT notwendig.

Die häufgsten ossären Fehlbildungen finden sich im Rahmen des Klippel-Feil-Syndroms, das damit die wichtigste Differentialdiagnose des Schiefhalses darstellt. Unter dem Begriff Klippel-Feil-Syndrom werden alle ossären Anomalien der HWS subsummiert, die mit einer angeborenen Fusion mindestens zweier HWS-Wirbel einhergehen. Pathogenetisch handelt es sich um eine Segmentationsstörung, die Ursache ist unklar. Klassischerweise findet man die typische Trias kurzer Hals, tiefer hinterer Haaransatz und Bewegungseinschränkung der HWS (Abb.3) in 50% aller Fälle; in 20% der Fälle wurde ein Schiefhals beschrieben (Hensinger et al. 1974). Häufig finden sich Kombinationen mit Fehlbildungen anderer Organsysteme wie des Herz-Kreislaufsystems, des Urogenitaltraktes oder der Rumpfregion (Abb.4).

Daneben kann auch eine einseitige atlanto-occipitale Fusion oder ein Halbwirbel zu einem Schiefhals führen.

Die orthopädische Therapie der ossären HWS-Fehlbildungen besteht zunächst in einer den Verlauf beobachtenden Begleitung der Patienten. Bei deutlicher Krümmungszunahme oder Instabilitäten der HWS kann eine Halbwirbelentfernung oder eine in-situ-Fusion der betroffenen Bewegungssegmente sinnvoll sein.
 
Auch bei der Sprengel`schen Deformität imponiert der angeborene Schulterblatthochstand bei flüchtiger Betrachtung als eine Schiefhalshaltung (Abb.5). Die Scapula entwickelt sich aus einer gemeinsamen Anlage mit der unteren HWS, pathogenetisch ist hier der Deszensus der Scapula aus der Mittellinie gestört. Die Schulterbeweglichkeit ist vermindert, der Arm kann aufgrund der fehlenden Rotationsmöglichkeit der Scapula nicht über die Horizontale angehoben werden (Abb.6). Je nach Schweregrad der Bewegungseinschränkung der Schulterregion oder je nach kosmetischer Beeinträchtigung der Patienten ist hier die operative Lösung und Distalisierung des Schulterblattes indiziert.
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Abb.5 Sprengel`sche Deformität bei einem 6-jährigen Patienten. Der angeborene Schulterblatthochstand führt zu einer deutlichen Asymmetrie der Hals- und Schulterregion.

Abb.6 Selber Pat. wie Abb.5. Der fehlende Deszensus der Scapula und die Fixierung des Schulterblattes an der unteren HWS lassen eine Rotation der Scapula nicht zu. Daraus folgt eine Bewegungseinschränkung des betroffenen Schultergürtels auf ca.90 Grad Abduktion bzw. Elevation des Armes.
Die akute Bandscheibenkalzifikation stellt eine seltenes Ereignis dar, bei dem der Nucleus pulposus einer oder mehrerer Bandscheiben kalzifiziert. Die Halswirbelsäule ist hiervon häufiger als die anderen Wirbelsäulenabschnitte betroffen. Die Inzidenz ist unbekannt, da die meisten Patienten asymptomatisch bleiben. In 95% der Fälle resorbiert sich die Verkalkung in 3 Wochen bis 6 Monaten, sodaß therapeutisch eine abwartende Haltung indiziert ist (Abb.7 und 8). Gelegentlich kann die Verordnung einer HWS-Orthese oder die Gabe nichtsteroidaler Antiphlogistika erforderlich werden.
 
Ein Trauma in der Vorgeschichte muß an eine Wirbelkörperfraktur oder eine Rotationssubluxation (insbesondere C1/C2) denken lassen. Die C1/C2-Rotationssubluxation tritt posttraumatisch, aber auch infolge einer rheumatisch-entzündlichen Erkrankung oder infolge einer entzündlichen Veränderung der Weichteile des Halses im Rahmen von HNO-Erkrankungen oder –Operationen auf (Grisel-Syndrom). Ursächlich wird eine Lockerung des Kapsel-Bandapparates der HWS infolge des entzündlichen Prozesses oder des traumatischen Ereignisses angenommen. Die Kinder zeigen einen Schiefhals mit einer ausgeprägten Bewegungseinschränkung, die teilweise mit Schmerzen verbunden ist, aber auch subjektiv beschwerdefrei auftreten kann. Die Röntgenbilder sind häufig aufgrund der Verkippung und der Rotation schwierig zu beurteilen. Falls das Röntgenbild hier nicht zweifelsfrei eine normale Stellung der Wirbelgelenke zueinander objektivieren kann, muß eine Computertomografie der HWS mit 3 D–Rekonstruktion durchgeführt werden, die dann die Fehlstellung anschaulich macht (Abb.9 und 10)



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Bei einer frühzeitig einsetzenden Therapie führt die Traktionsbehandlung mit einer Glisson-Schlinge in wenigen Tagen zu einer raschen Symptombesserung. In seltenen Fällen muß eine Halo-Traktion über mehrere Wochen durchgeführt werden, das Repositionsergebnis wird durch ein HWS-CT dokumentiert. Bei einem Fehlschlagen der Repositionsbehandlung ist eine operative in-situ-Fusion der betroffenen Bewegungssegmente indiziert.
 
Eine Differenz des Hörvermögens (einseitige Schwerhörigkeit) kann durch eine Rotation des Kopfes ausgeglichen werden, bei der das schlechtere Ohr nach vorne gedreht wird. Ebenso kann eine Störung des Gleichgewichtsorgans im Innenohr eine Schiefhalsstellung verursachen.

Neurogene Störungen erstrecken sich von Visusveränderungen oder anderen Augenfehlern (z.B. Schielen durch Parese des M.obliquus sup.; Abb.11) über Fehlbildungen des Rückenmarkes (Syringomyelie) bis hin zu Rückenmarks- und Hirntumoren. Hier muß insbesondere an Tumore der hinteren Schädelgrube gedacht werden. Eine Untersuchung durch den Augenarzt und gegebenenfalls auch eine kernspintomografische Untersuchung sind bei vorliegendem Verdacht erforderlich.

In seltenen Fällen führt ein Osteoblastom des Wirbels zu einer Schiefhaltung.

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Abb.7 Akute Bandscheibenkalzifikation bei einem 9-jährigen Patienten. Röntgenbilder der HWS in zwei Ebenen im Halbjahresabstand zeigen eine Kalzifikation der Bandscheiben in allen HWS-Bewegungssegmenten und die vollständige Normalisierung.

Abb.8 Akute Bandscheibenkalzifikation bei einem 9-jährigen Patienten. Röntgenbilder der HWS in zwei Ebenen im Halbjahresabstand zeigen eine Kalzifikation der Bandscheiben in allen HWS-Bewegungssegmenten und die vollständige Normalisierung.

Abb.11 Okulärer Schiefhals bei einem 8-jährigen Patienten. Eine augenärztliche Untersuchung ist Bestandteil der Diagnostik des Schiefhalses.